Essays Johannes Schleicher Essays Johannes Schleicher

Anti oder die normale Hand

„Wenn nur alles aus Gold wäre,“ dachte Midas und blickte hasserfüllt auf seine Hand, mit der er immer nur ein Ding erfassen konnte.

Die wahre Immensität des Universums ist das, was hätte sein können, das, was ich hätte tun können. Ein Universum liegt im Indikativ, eine Unermesslichkeit im Konjunktiv II.

Jede getroffene Entscheidung bedeutet einen Genozid an Möglichkeiten. Jeder Gedanke verhindert andere, und vor allem jede Tat tötet eine Unzahl anderer Taten. Ein Sandkorn am Strand der Möglichkeiten ist ein Augenblick. Was ihn so sehr über die Möglichkeiten erhebt, ist, dass er ist. Es fragt sich nur, ob ihn das tatsächlich wertvoller macht als eine pure Aussicht.

Das Massensterben der Möglichkeiten durch die Folge der Augenblicke, die getroffenen Entscheidungen, ist das wirkliche Jenseits – die Gesamtheit des Verpassten.

Die Grausamkeit im Vergleich zu dem des Christentums liegt darin, dass es zwar genauso unerreichbar ist, dass wir es aber in jeder Sekunde unseres Lebens greifbar vor Händen haben – und dass das Greifen danach es eben unerreichbar macht. Tantalos’ Qualen, jeden Moment, und unsere einzige vorweisbare Sünde ist die conditio humana.

So häuft man in jedem Augenblick einen Trümmerhaufen an nicht realisierten Möglichkeiten an, mit denen man der eigenen Vergangenheit zu jeder Zeit immer mehr zu Bedauern gibt. Das ist der Trümmerhaufen des Angelus Novus.

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Diabolus antiquitatis

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Mein Teufel muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Er möchte wohl verweilen und die Toten wecken. Aber ein Sturm weht vom Augenblick, der Gegenwart her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht schließen kan. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während das Gewesene vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir das Sein nennen, ist dieser Sturm.

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Die Schlange in der Fresse

Es gibt ein Gleichnis von Nietzsche, in dem ein Mann mit einer Schlange ringt, die ihm in den Mund gekrochen ist und sich dort festgebissen hat. Es ist das Gleichnis des Menschen, wie er mit der Beschaffenheit seines Wesens ringt und droht, daran zu ersticken.

Die Beschaffenheit meines Wesens ist der Neid. Früher habe ich ihn nur immanent, direkt und konkret gekannt – es war ein bestimmter Neid, wegen einer Frau, einer Fähigkeit, wegen Lebensumständen.

Durch mein Altern, vielleicht durch den Tribut, den ich dem Moloch mittlerweile in seinen Schlund kippen muss, durch den damit einhergehenden Verlust meiner Freiheit, in der Gestaltung meiner Zeit und dem Verlust der theoretischen Möglichkeit, alles zu werden, ist auch mein Neid thereotischer geworden: Transzendenter, allumfassender und vor allem brutaler, gewalttätiger. Ich neide nicht nur anderen das Glück, mit dem sie ihre Entscheidungen getroffen zu haben scheinen, sondern auch die Illusion gleich mit, dass dem tatsächlich so sei.

Aber der Neid überkommt mich besonders daher, dass mir, wie in Phantomschmerzen, ständig bewusst ist, was ich nicht habe, dadurch, dass ich mich dazu entschieden habe, es nicht zu haben, in dem ich etwas anderes wollte.

Dieses Gefühl verstopft mir den Rachen derart, dass es oft in der völligsten Perspektivlosigkeit endet, auch mit dem Gefühl der Mittelmäßigkeit, die sich herzhaft aus dem Verlust der theoretischen Allmöglichkeit speist – Mittelmäßigkeit der Erfahrungswelten, Mittelmäßigkeit des empfundenen Glücks, des Behagens, das ich mir ausgesucht habe. Mittelmäßigkeit der theatralischen Sendung. Ich weiß, anders als der Mann in Nietzsches Gleichnis, dass ich an dieser Schlange nicht ersticken werde. Aber ich würde sie gerne ganz hinunterschlucken.

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Unsere Generation

Der Kuss des Meeres ist tödlich. Das Meer von außen. Nur schlafen, nur Wellen, den Tang schon zwischen den Zehen, sorglos, denn die glatte Stirn ist der Sieg (so steht es in der Fibel). Der Fortschritt bringt die Lösung, das Delta in den Tod. Wo sind noch Schlachtfelder, die nicht nur Blut fordern? Die Pein unserer Generation, ihr Buchtitel: Auf der Suche nach den Schlachtfeldern. Kalte Finger haben den Engel seziert, Nasen haben ihn zerrochen, tote, weiße Augen sahen dabei zu, wie seine Flügel abgebrochen und Mikroskopiergläser zu Hermes gemacht wurden. Sein Todesröcheln verhallte zwischen den Trommeln der Kriege, über denen man die Welt vergaß. Vorwärts gegen die Wand, aber: die ist bunt angestrichen, und immer neu. Die Arabeske wurde gerade geschmiedet, gelangweilt, aus Pflichtbewusstsein, den Alten zum Trotz, weil die Alten die Alten sind, sie wurde eine Linie, ein Strom, der geradewegs ins Meer mündet, geradewegs in den Progress zum Letzten, geradewegs zur Erfüllung, denn der Mensch ist ein Rad, das vorwärts rollt.

Und ich, wo stehe ich in diesem fahlen Land, das Wochenendglück dankbar mit meinen Computerhänden mir die trockene Kehle hinunterschüttend, immer durstig wie meine Brüder und Schwestern, nur nicht wissend, wonach. Die Späteren werden das Aberglaube nennen und lachen. Später meint mir fast: Weiter. Unsere gesamte Metaphorik ist dem Tode geweiht. Wie Daumenschrauben, die sich aufwärts zusammenziehen, bis man daliegt in seiner Lache, die dann doch noch Mensch geblieben ist. Denn verrecken tun wir wie unsere Großmütter: Mit dem letzten Atemzug. Wo stehe ich zwischen den Schläfern, die sich selbst ihr Dynamit umschnallen, dem Terror entgegen? Schlafend ich schlafe auch, ich habe doch auch die Süßigkeit im Mund, die Hände manikürt, ich schreie doch auch den letzten Schrei mit. Gefahrenbewusstsein füttere ich meinem Stolz in kleinen Portiönchen in sein williges Mündchen, die Zähnchen längst vom Zucker verklebt. Das Thema ist kein neues, und das ist der bissigste Kopf der Hydra Rimbauds letzte Träne fiel auf das letzte Wort, das er zu schreiben hatte: Moderne.

Man kennt das schon, das ist konservativ! Das Weltwissen verdoppelt sich in 3 Jahren. Und alles wächst und gedeiht ins Neue. Und man verliert Blut bei jedem Schritt. Und man läuft leichter bei jedem Schritt. Und die Augen werden blasser, aber das erleichtert den Blick über die Horizonte. Die Gier und die Metaphysik hat keine Lust mehr auf die Metaphysik. Philosophen sind jetzt Politiker und Schriftsteller Journalisten. Artgerechte, nützliche Probleme bitte. Das Herz klopft nicht mehr in der Brust, keiner weiß, wo es sich hinverzogen hat, denn jeder hat die Nase vorne am Kopf kleben und die Augen gleich darüber. Und ich? Ich zorne in mich hinein, stampfe wütend mit dem Fuß, und dann schlafe ich weiter, das Kind nach dem Bäuerchen. Es ist eine subtile Wunde, und man ist böse, wenn sie schmerzt. Und wer will das schon. Wer will sich schon selbst das Brandzeichen in den Arm drücken.

Du kennst Lampedusa nicht? Dieser Blick: Ein saurer Geschmack. Man wird leichter zynisch in diesen Zeiten, als dass man ein Update von Mac OS verpasst, das Hündchen, das gehorsam und bissig neben dem Nach-vorn ins tiefere Wasser paddelt. Versteht man sich überhaupt noch. Wo sind die Kommunikatoren. Kleine, krumme Gelehrte haben sich runde Brillen angezogen und Menschenkleider angelegt und die Herzen gehören ihnen, denn sie kämpfen für alle gegen den bösen Schattenmann, den die Chimere dem Suchenden hingeworfen hat, und so ringt eine Elite nach der anderen danach, sich das rührendste Buch über eine verkackte Kindheit im Osten oder die Oma, die im Krieg verkümmert ist, aus geübten Fingern und geübten Gefühlen zu saugen. Und das Saugen geht leicht, es ist das Einfachste, denn der dichterische Schöpferschmerz dieser Kunstwerke ist doch Reinigung, die einen den Schritt weiter Richtung Besserung gehen lässt. Das neueste Gefühl präsentiert sich so warm und anschmiegsam wie ein Kältetod.

Um was sollte es gehen? Um das, was man sieht, wenn man sich den Kopf an der Progressfassade zerrannt hat, um die kleinen Fetzen, die zwischen Splittern von Gorillaglas und Hornbrillen, Hirn herumflittern. Bei denen sich etwas regt, wenn die ganze Polit-Sentimentalität und die hingezüchteten Kunstproblemchen aufgeraucht sind und man sich, erwacht, fast wundert, warum die Wangen feucht glänzen (und sich darüber doch auch ein bisschen freut, weil es zeigt, dass man ein Mensch mit Tiefgang ist ich kotze). Wo ist der Schock, der die Spiegelwelt zerbersten lässt, der mir meine Tempel wieder aufbaut, mit dem Schleier und der Lade, der die Cherubim abstaubt und in die Ecken gestellt, der das Erschauern, die Ehrfurcht zurückgibt?

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Fusuma

It all begins with an idea.

Der Sinn des Wortes Wahrheit ist vielleicht epistemologischer, als mir das Ganze lieb ist. Mir geht es um unmittelbare Erfahrung. Mir geht es sicher nicht um den Kern der Dinge oder um die Triebfeder alles Lebendigen. All das ist viel zu fern.

Was ist schon ein tatsächlicher Beweis dafür, dass Napoleon wirklich gelebt hat? Es gibt sehr viel, dass dafür spricht. Aber man ist nicht da, man sieht ihn nicht selbst, und alles andere ist Hörensagen. Sehr fundiertes vielleicht, aber in jeder Faser mittelbar. Napoleon ist mir völlig egal, aber die Mittelbarkeit all dessen, was ich nicht direkt vor Augen habe, schmälert seine Existenz und reduziert es zum Bild. Warum soll ich irgendjemandem glauben? Wie kann ich irgendjemandem glauben? Farblos sind Busunfälle in Indien, Kriege und Stürme in New Orleans, die Medien können sich noch so sehr anstrengen. Ja, ich sehe es. Aber ich erlebe es nicht, und allein dadurch rückt es in unfühlbare Ferne, die ich bestenfalls noch ästhetisch betrachten kann. Ich bin nicht fähig, über den Rand meiner Erfahrung zu schauen. Das ist wohl gleichzeitig Anlage und Intention. Vielleicht ist es Unvermögen, es ist aber auch Selbstschutz.

Die Konsequenz wäre für mich ein Ertrinken im Mitleid, und ich bin nicht bereit, mich folgenlos für etwas Mittelbares aufzuopfern. Der gute Geschmack erwartet ein feuchtes Auge, aber dafür bin ich mir zu redlich. Ich bin sicher, dass ich hierin nicht der einzige bin. Ansonsten wären auf der Hochzeit von Will und Kate weniger Menschen dagewesen.

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